Veröffentlichung zum Thema Muße und Kreativität im cf Magazin, © Chris Hartmann


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UTOPISCH: MEHR MUSSE IM ARBEITSALLTAG? - ÜBER DEN UMGANG MIT DER RESSOURCE ZEIT

teil 5

ARBEITGEBER SOLLTEN NUR DAS "WAS", ALSO DAS ARBEITSZIEL VORGEBEN UND NICHT DAS "WIE"            

Selbständiges kreatives Arbeiten wäre also ein Faktor für ein glückliches Leben und eine Bedingung dafür wäre demnach mehr Muße im (Arbeits-)Alltag. Wie können wir denn nun in unserer extrem beschleunigten (Arbeits-)Welt die Muße erreichen, die wir für Kreativität benötigen, um unsere Arbeitsaufgaben zu lösen? Der Frage ist auch der Filmemacher und Autor Florian Opitz nachgegangen. In dem 97-minütigen Kinofilm "Speed - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (ausgestrahlt auf Arte am 22.01.2014) befragt er zum Thema Zeitnot unter anderem Wissenschaftler, Zeitmanagement-Experten und Therapeuten und sammelt Informationen zu Ursachen und Auswirkungen von Zeitknappheit.

Es kommen Unternehmensberater zu Wort und Menschen, die auf dem internationalen Finanzmarkt aktiv sind. Denn sie drehen mit an der Zeitschraube. Die Entwicklung geht sogar dahin, dass Finanzgeschäfte mittlerweile auch von mit Informationen gefütterten Maschinen getätigt werden, weil sie schneller auswerten können als der Mensch. Außerdem besucht Opitz Menschen, die aus dem beruflichen Hamsterrad ausgestiegen sind. Er sagt, dass ein anderes Tempo möglich sei, wenn wir es nur wollten. Opitz sucht Wege aus unserem Dilemma und kommt am Ende des Films zum Schluss, dass jeder für sich einen individuellen Weg finden muss, um entschleunigt zu seinem Glück zu finden. Die Zuschauer sehen Opitz in der letzten Filmeinstellung mit seinem Kind auf dem Spielplatz und er nimmt sich vor, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Jeder tankt anders auf. Orte der Stille zu suchen, ist ebenso eine Möglichkeit. In die Natur gehen, für einen kurzen Spaziergang. Und sich zeitweise vom Nachrichtenstrom abkoppeln, eine weitere.

Eine langsamere Gangart wäre auch für Politiker oder für Angestellte in den Chefetagen der Wirtschaft gesünder, um übereilte Fehlentscheidungen zu vermeiden. Aber selbst Chefs haben nichts zu lachen, auch sie opfern sich auf in unserer Industriegesellschaft. In Amerika spricht man bei Top-Führungskräften von "Hurry Sickness", übersetzt mit Hetzkrankheit, in Japan sogar von "Karoshi", das Tod durch Überarbeitung bedeutet. Die protestantische Arbeitsethik hat uns fest im Griff. Übersetzt heißt das lateinische Wort "industria" übrigens Fleiß, Betriebsamkeit, Eifer. Durch die Industrie wurde die Produktion in viele Arbeitsschritte zerlegt, um die Produktion zu erhöhen. Es geht um Stückzahlen, die in einer bestimmten Zeit hergestellt werden sollen. Im Rahmen des Controlling und des strategischen Managements werden Arbeitsprozesse effizient gestaltet, Prozesse werden dokumentiert, analysiert und optimiert. Leerlaufzeiten sollten minimiert, Qualitätsstandards gewährleistet und Kosten gesenkt werden.

Aber weder geistige noch kreative Arbeit können wir so einfach messen. Schon gar nicht in Zeit. Vielleicht sogar im Vorfeld gar nicht. In den meisten Fällen ist erst das Ergebnis sichtbar. Aus ökonomischer Sicht wird die Zeit, die andere für uns arbeiten, mit einem Stundensatz vergütet. Die Zeit eines Klempners wird zum Beispiel mit 60 Euro pro Stunde bezahlt und die eines Anwaltes mit 200 Euro pro Stunde. In der Brandeins-Ausgabe "Schwerpunkt Nichtstun - Die Not des Müßiggangs" beschreibt der Journalist Wolf Lotter Vorurteile, mit denen wir uns konfrontiert sehen, wenn wir zuhause arbeiten: "Wer jeden Werktag von neun bis fünf im Büro arbeitet und regelmäßige Beschäftigungsnachweise führt, wird geachtet. Wer seine Kopfarbeit aber nicht im Büro, sondern zuhause erledigt, steht unter Generalverdacht, die meiste Zeit nichts zu tun. Das ist zwar falsch, aber kein Wunder, denn viele Unternehmen und Organisationen werden vorwiegend durch ihre Kontrollkultur zusammengehalten. Ihr eigentlicher Betriebsgegenstand ist Disziplinierung." (Brandeins, 08/2012).

Lotter, der auch das Buch "Die kreative Revolution - Was kommt nach dem Industriekapitalismus?" (Murmann-Verlag, 2009) geschrieben hat, gibt in seinem Artikel aber auch noch zu bedenken: "Was ist mit all jenen, deren Arbeitskraft man nicht mehr braucht? Wovon sollen die leben? Natürlich von den Früchten des Fortschritts und der Automationsgewinne. Es geht nicht darum, ob man umverteilt, sondern nur, wie man das tut." Dazu gibt es bis jetzt keine akzeptierten Ideen. Arbeit schaffen, also einfach erfinden, wie zum Beispiel in der Vergangenheit einen See ausheben lassen, wäre nicht unbedingt zweckgebunden - Arbeit ist aber in unserer Gesellschaft als zweckgebunden definiert. Und das bedingungslose Grundeinkommen scheitert sowohl an der Frage, wie das Ganze finanziert werden soll, als auch an dem Zweifel, ob alle ein selbstbestimmtes Leben führen können. Der Zweifel ist sogar berechtigt, weil einige Menschen mehr Struktur brauchen als andere.

Die Selbstbestimmung über unsere Zeit müssen wir in jedem Fall wieder erlernen, das heißt, sie in eigene sinnvolle Strukturen einteilen. Zeitmanagement lehrt uns vor allem Prioritäten setzen und sich abgrenzen gegen zu viele Störungen. Und da wären wir wieder beim Müßiggang. Ungestört eine Zeit lang dem süßen Nichtstun nachgehen. Mit sich allein, mit der Familie oder Freunden und Kollegen. Anderen zuhören, sich austauschen, Konversation betreiben. Sich inspirieren lassen und gemeinsam Ideen entwickeln. Ohne den Gedanken des zwangsläufigen Strebens.

Müßiggang ist eine Kulturtechnik. Früher wussten schon die Kinder des Adels, wie man dem Müßiggang frönt. Müßiggang galt als die Zeit, in der man den Geschäften fernblieb. Die Zeit verbrachte man ohne einen bestimmten Zweck. Den Oberen war es natürlich nur möglich, weil sich andere für sie nützlich gemacht haben. Das heißt nicht, dass wir in Zukunft andere für uns arbeiten lassen sollen, aber wir müssen aufhören, uns und unsere Zeit ausschließlich über Leistung zu definieren. Und wir sollten anfangen, uns Raum für Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu schaffen.

Arbeitgeber sollten nur das "Was", also das Arbeitsziel vorgeben, und nicht das "Wie" - jeder Mitarbeiter würde vermutlich andere kreative Lösungen finden und trotzdem würden alle die Zielvorgabe erreichen. Bei solchen frei gestaltbaren Arbeitsmodellen bliebe Platz für selbstbestimmte Zeit. Muße, die auch Eigenzeit genannt wird, würde als allgemeine Bereicherung wieder mehr akzeptiert werden und nicht wie in der Geschichte "Momo" etwas sein, das keiner mehr kennt, weil nur noch Beschleunigung, Arbeitseffizienz und Konsum unseren Alltag bestimmen.

Chris Hartmann ist Diplom-Kommunikationsdesignerin. Die Autorin lebt und arbeitet in Wuppertal.

 

 

 


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