Veröffentlichung zum Thema Muße und Kreativität im cf Magazin, © Chris Hartmann


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UTOPISCH: MEHR MUSSE IM ARBEITSALLTAG? - ÜBER DEN UMGANG MIT DER RESSOURCE ZEIT

teil 1

Von Chris Hartmann

Ich bin gehetzt, stehe unter Druck und frage mich, wo meine Zeit geblieben ist. Die wurde mir gestohlen. Aber von wem? Oder habe ich nur ein schlechtes Zeitmanagement? Als Kind glaubte ich, es gäbe sie wirklich die grauen Männer, die den Menschen die Zeit stehlen. Ich sehe sie noch genau vor mir, ihre aschfahle Haut, ihre grauen Sakkos und grauen Hüte, wie sie in graue, elegante Autos einstiegen und sich in Zigarrenrauchwolken hüllten. Sie trugen so kryptische Namen wie XYQ/384/b und BLW/553/c und stahlen die Zeit, um sie getrocknet als Zigarren einfach wegzurauchen. Die meisten kennen sicherlich die "grauen Herren" aus dem Kinderbuch "Momo" von Michael Ende, dem 40 Jahre alten Klassiker, der 1974 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde.

Die "seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte" wurde in 40 Sprachen übersetzt und über 9 Millionen Mal verkauft. Es ist damit eines der hundert meistgelesenen Bücher der Welt. Die Story ist aktueller denn je, denn heute sind die Ressourcen knapp und die Ressource Zeit ist einer der wertvollsten, die wir haben, sagen gleich mehrere Wirtschafts-Experten.

Die Story des Buches zur Erinnerung: Die Menschen werden von den Zeitdieben um ihre wertvolle Zeit gebracht und vergessen im Hamsterrad, im Hier und Jetzt zu leben. Die grauen Herren kontrollieren die Stadt, ohne dass es den Menschen auffällt, weil sie sich nicht mehr an sie erinnern können. Durch die grauen Herren gibt es nur noch Beschleunigung, Arbeitseffizienz und Konsum und es bleibt keine Zeit mehr für Pausen, Nachdenken, Gespräche und Müßiggang. Nur das Mädchen Momo, die immun gegen die grauen Herren ist, weil sie gut zuhören kann, sich also Zeit für sich und andere nimmt, kann die grauen Herren besiegen. Zur Seite steht ihr die Schildkröte Kassiopeia. Und von Meister Hora, dem Hüter der Zeit, bekommt sie außerdem eine Stundenblume geschenkt, denn für die Rettung der Menschen muss Meister Hora die Zeit anhalten.

Bestimmt nicht alle wissen, dass Michael Ende seine Gedanken über den Kapitalismus und seine Zweifel an der Wachstumsgesellschaft in diesem Buch verarbeitet hat. Er schrieb vor 13 Jahren an den Ökonom Werner Onken, der als Leiter der Freiwirtschaftlichen Bibliothek in Varel eine Interpretation über das Buch verfasste: "Ich freue mich sehr, dass Sie mein Buch so gut verstanden haben. (...) Übrigens sind Sie bis jetzt der Erste, der bemerkt hat, dass die Idee des alternden Geldes im Hintergrund meines Buches Momo steht. Gerade mit diesem Gedanken von Steiner und Gesell habe ich mich in den letzten Jahren intensiver beschäftigt, da ich zu der Ansicht gelangt bin, dass unsere ganze Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich oder vorher sogar die Geldfrage gelöst wird." Das Zitat ist dem Interview entnommen, das im Mai 2013 im Fernsehen (Sat1, Bayern) in der Sendung "Lebensformen: 40 Jahre Momo" gesendet wurde.

In der Geschichte wird Zeit und Geld in Zusammenhang gebracht, an sich ist das nichts Neues. Die Äußerung "Bedenke, dass die Zeit Geld ist;...", haben wir dem Politiker Benjamin Franklin zu verdanken. Seitdem lautet die Gleichung, je mehr Zeit wir investieren, desto mehr Geld werden wir verdienen oder aber je schneller wir etwas produzieren, desto mehr Geld werden wir verdienen. Aber die Gleichung geht bekanntermaßen nicht immer auf. "Wenn die Zeit selbst nur noch als Verzögerungsfaktor empfunden wird, stehen wir unter dem Diktat jenes Verwertungszwangs, der bündig in der Devise 'time is money' aufgeht. Dieses Prinzip beruht, wie man weiß, auf der Paradoxie, dass mit jeder Zeitersparnis der Mangel an Zeit nur noch wächst", stellt die Journalistin Andrea Köhler in ihrem Buch "Die geschenkte Zeit" fest.

DER FAKTOR ZEIT IST NEBEN DEM GELD AUCH MIT UNSEREM WOHLBEFINDEN VERBUNDEN

Außerdem dürfen wir im Gegensatz zu den Menschen in dem Roman nicht vergessen, dass Zeit nicht nur Geld bedeutet, sondern auch Lebenszeit. Der Faktor Zeit ist nämlich neben dem Geld auch mit unserem Wohlbefinden verbunden. Man spricht von der so genannten Work-Life-Balance. Die meisten Menschen antworten auf die Frage was Ihnen am meisten fehlt: "Zeit." Und das, obwohl vielen Menschen im Durchschnitt gleich viel Zeit zur Verfügung steht. Es geht also nicht unbedingt darum, mehr Zeit zu haben, sondern was wir in der vorhandenen Zeit tun. Work-Life-Balance, beschreibt also wie viele Wahlmöglichkeiten wir haben, mit der eigenen Zeit zu haushalten.

Mit dem Haushalten ist es aber so eine Sache. Denn der Beschleunigung können wir uns heute kaum noch entziehen. "Nicht Geld, nicht Macht, sondern Beschleunigung regiert die Welt", sagt der in Jena lehrende Soziologe Hartmut Rosa in einem Interview mit der Zeit online. Rosa hat das Buch "Beschleunigung und Entfremdung - Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit" (Suhrkamp, 2013) verfasst. Rosa belegt mit mehreren Studien, dass sich unsere Zeitstrukturen und damit unsere Zeitwahrnehmung extrem beschleunigt haben.

Unter dem Zeitdruck, unter dem wir heute stehen, entscheiden wir, was wir tun und tun dann oft Dinge, die wir gar nicht wollen, weil wir zu schnell entschieden haben, ohne länger abzuwägen. Rosa sagt, wir würden viele Dinge gleichzeitig machen, unter anderem weil wir so die "Erlebnisdichte pro Zeiteinheit" steigern können. Nur wurde schon mehrfach bewiesen, dass wir viel besser arbeiten und intensiver erleben, wenn wir uns nur auf eine Sache konzentrieren.

Die Gefahr bei Multitasking ist, dass wir das Gefühl haben, etwas zu verpassen, nämlich das intensive Erlebnis beziehungsweise Gefühl. Wenn es schlecht läuft, dann bekommen wir sogar deshalb eine Depression - auch Pathologie der Zeit genannt. Wenn wir zu wenig inne halten und nur noch im Hamsterrad laufen, droht das Burnout.

>TEIL 2 MUSSE GEHÖRT, WENN ÜBERHAUPT, IN DIE FREIZEIT, SO DENKEN WIR

 

 

 


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