Veröffentlichung zum Thema Muße und Kreativität im cf Magazin, © Chris Hartmann


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UTOPISCH: MEHR MUSSE IM ARBEITSALLTAG? - ÜBER DEN UMGANG MIT DER RESSOURCE ZEIT

Teil 2

MUSSE GEHÖRT, WENN ÜBERHAUPT, IN DIE FREIZEIT, SO DENKEN WIR

Mit der Industrialisierung haben wir in der Arbeitswelt Modelle entwickelt, die genau vorgeben, wie lange ein Mensch zu arbeiten hat. Dabei lässt die heutige Arbeitswelt wenig Zeit zur Muße. Wer bei der Arbeit zu oft abschaltet, muss fürchten, als Leistungsverweigerer da zu stehen. Es ist in den meisten Köpfen nicht verankert, dass Muße die für viele Arbeiten notwendige Kreativität fördern kann. Ebenso wie Zeitdruck Kreativität blockieren kann.

Wenn wir denken, wir müssten ständig erreichbar sein und permanent unsere Mails checken, dann werden unsere kognitiven Fähigkeiten um zehn Prozent eingeschränkt, das hat das Londoner King`s College herausgefunden. Kognitive Lernziele beschreiben unter anderem die kreative Anwendung von Wissen und das Lösen von Problemen.

Nach so einem Arbeitstag voller Unterbrechungen sind wir entweder zu erschöpft und können uns nach Feierabend nur noch berieseln lassen oder wir behalten die Haltung aus dem Job bei und sind auch in unserer Freizeit auf dem Sprung, lassen uns auf nichts richtig ein, um weiterhin auf Abruf erreichbar und einsetzbar zu bleiben. Wir wollen uns auch in der Freizeit nicht festlegen.

Das kann auch unser Sozialverhalten, unseren Charakter verändern. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt einen neuen Sozialcharakter, diesen Typus bezeichnet Rosa als Spieler. Wenn wir zu diesem Charakter gehören, denken wir nicht an morgen. Wir entscheiden situativ und halten uns alles offen. Dauerhaftes und Bindungen meiden wir. Sich mit einer Sache oder Jemandem zu identifizieren, fällt uns dann schwer. Unverbindlichkeit erleichtert uns das Anpassen an die beschleunigte Zeit, die sich ständig verändert. Diese soziale Beschleunigung verhindert echte Identität. Sich einlassen ist aber wichtig, um intensiv das Leben und sich selber zu spüren.

Ein intensives Leben wollen wir aber, zumindest in der Freizeit. Deshalb gehört Muße, wenn überhaupt, in die Freizeit, so denken wir. Die freie Zeit beziehungsweise wie viele Urlaubstage wir haben, ist vertraglich festgelegt. Amerikanische Angestellte haben nur Anspruch auf 14 Tage im Jahr, in Deutschland haben wir oft über 20, manchmal bis zu 30 Tage Urlaub. Obwohl wir nicht wenig Freizeit haben, können wir mit der wertvollen freien Zeit oft gar nichts anfangen und lassen sie ungenutzt verstreichen.

Wo manche sich nicht einbringen, geben andere alles. Dann versuchen wir auch in unsere Freizeit alles reinzupacken, buchen Aktivurlaube, wollen unbedingt den Kick bei Extremsportarten erleben. Die Annahme, auch in der freien Zeit Leistung erbringen zu müssen und deshalb nicht abschalten zu können, ist das Los vieler. "Wenn man einmal psychologisch die Tagesläufe der Menschen analysiert, dann stellt man fest, dass viele einen regelrechten Kreuzzug gegen die Langeweile führen. Der Terminkalender ist überfrachtet und der Tag heillos überprogrammiert. Darüber hinaus soll eine ganze Armada von Medien - vom MP3-Player, der als moderner Ohrenschnuller fungiert, über das iPhone oder Smartphone bis hin zum Radio, Fernseher oder Computer - das Aufkommen situativer Leerstellen torpedieren. Ein zur Ruhe kommen und auf sich alleine gestellt sein soll mit allen Mitteln verhindert werden", so der Psychologe Stephan Grünewald in seinem Artikel "Mehr Kreativität durch Müßiggang". (Aus Forschung und Lehre, August 2011)

Nicht zur Ruhe zu kommen, obwohl die freie Zeit da ist, damit haben viele Menschen zu kämpfen. "An der Unfähigkeit zur Muße leiden aber nicht nur erfolgreiche Manager", stellt der Autor Ulrich Schnabel fest. Er hat über Muße ein Buch geschrieben, das den Titel "Muße: Vom Glück des Nichtstuns" trägt. Es seien auch paradoxerweise jene, die ihre Arbeit verloren haben, die Ausgesonderten, Erwerbslosen, Zwangsentschleunigten. Sie hätten plötzlich freie Zeit, die ihnen allerdings leer, entwertet und unbrauchbar erscheint, so Schnabel. Alle möchten mitmachen in unserer Leistungsgesellschaft, in der das süße Nichtstun immer öfter einen bitteren Beigeschmack bekommt - egal welche Position wir in der Gesellschaft innehaben. Wir sind innerlich so auf Wachstum, Konsum und Erlebnismaximierung eingestellt, dass wir das ehemals aktive Nichtstun, den Müßiggang, regelrecht verlernt haben.

Aber dieses Phänomen ist schon etwas älter, denn auch früher bemerkten einige, wie sich ihre Zeit beschleunigt hat. Friederich Nietzsche schrieb in dem Buch "Die fröhliche Wissenschaft" einen Abschnitt zu Muße und Müßiggang. Darin heißt es: "Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Bluthe eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit -- das eigentliche Laster der neuen Welt -- beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, -- man lebt, wie Einer, der fortwährend Etwas 'versäumen könnte'. 'Lieber irgend Etwas tun, als Nichts' -- auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen."

>TEIL 3 DIE SICHT, DASS MÜSSIGGANG NICHT ERSTREBENSWERT IST, ÄNDERT SICH MIT DER INDUSTRIALISIERUNG

 



 


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